Herr Prof. Güntert, was ist Lichen sclerosus?
Prof. Dr. Andreas Günthert: Lichen Sclerosus ist eine Hauterkrankung, die vorwiegend den weiblichen Intimbereich, in einzelnen Fällen aber auch den männlichen Intimbereich betrifft. Manchmal tritt ein Lichen sclerosus auch ausserhalb des Intimbereichs auf. Verwandt mit dem Lichen sclerosus – man kann das nicht ganz scharf trennen – ist der Lichen planus, der häufiger ausserhalb des Intimbereichs vorkommt. Während der Lichen sclerosus eher juckt, verursacht der Lichen planus eher ein Brennen und Schmerzen. Man schätzt, dass jede 30. Frau betroffen ist.
In welchem Alter tritt diese Erkrankung auf?
Die Ausprägung hängt vom Alter ab. Die Krankheit beginnt bereits im Kindesalter, wird aber oft erst spät diagnostiziert. Typisch bei Kindern ist der Juckreiz und Hautausschläge im Windelbereich, die mit einer Windeldermatitis verwechselt werden können. Damit die Krankheit früh erkannt wird, müssen Kinderärzte und Eltern sich dieser Krankheit mehr bewusst sein. In der Pubertät wird es meistens besser. Junge Frauen entwickeln dann wieder vermehrt Beschwerden. Diese Beschwerden werden dann oft mit Pilz- oder Blasenentzündungen verwechselt. Vor allem, wenn eine Frau an mehreren Pilz- oder Blaseninfekten pro Jahr leidet, sollte an die Möglichkeit eines Lichen sclerosus gedacht und die Beschwerden beim Gynäkologen richtig abgeklärt werden. Ist ein Lichen sclerosus Ursache für die Beschwerden, wir der Arzt keine entsprechenden Pilze und Bakterien finden. Eine Pilzcreme oder Antibiotikum sind dann auch die falsche Therapie.
Wie lässt sich ein Lichen sclerosus diagnostizieren?
Es dauert oft lange, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. Lichen sclerosus ist eine Autoimmunerkrankung mit familiärer Häufung. Es gibt jedoch weder Blut- noch Gewebetests, die man zum Nachweis durchführen könnte. Optisch ist sie im Frühstadium auch nur erkennbar, wenn jemand darin geschult ist und Erfahrung hat. In absehbarer Zeit wird es möglich sein, Tests auf genetischer Ebene durchzuführen, um eine Veranlagung für diese Erkrankung nachzuweisen. Diese Tests waren bisher sehr teuer, werden in Zukunft aber bezahlbar sein. Auf diese Weise werden durch Forschung neue Möglichkeiten zur Früherkennung dieser Krankheit geschaffen. Manchmal verursacht die Erkrankung aber fast gar keine Beschwerden, was die korrekte Diagnose noch schwieriger und langwieriger macht.
Ist das nicht beunruhigend, dass die Krankheit in einem frühen Stadium so schwierig zu erkennen ist?
Ja, das ist ein Problem. Denn der Lichen sclerosus zerstört schrittweise den Intimbereich. Die entzündlichen Prozesse führen zu Verklebungen und Rückbildungen im Intimbereich, was zu starken Beschwerden beim Geschlechtsverkehr führt. Am schlimmsten betroffen sind meist sexuell aktive Frauen. Bei ihnen schreitet die Zerstörung rascher fort, weil, so scheint es, jedes kleinste Verletzung einen Schub auslösen kann. Die Krankheit kann deshalb zu massiven sexuellen Problemen führen. Die Klitoris selbst ist eher nicht betroffen. Aber die Vorhaut verdickt sich und schiebt sich über die Klitoris. Das Gewebe rund um die Scheidenöffnung reisst ein und heilt narbig ab. Die Frauen werden immer enger und der Verkehr mittelfristig zur Tortur bis unmöglich. Auch der schubweise auftretende Juckreiz kann sehr einschränkend sein. Oder die starken Schmerzen. Dinge wie Sitzen (z.B. bei beruflichen Besprechungen) oder Velofahren können schier unmöglich werden. Betroffene weisen auch ein erhöhtes Risiko für Vulvakrebs auf. Das wird für viele zunächst zum Hauptangstfaktor, ist aber nur bedingt begründet. Bei einer guten Behandlung ist das Risiko nicht mehr erhöht.
Wie entwickelt sich die Erkrankung nach den Wechseljahren weiter?
Nach den Wechseljahren wird die Krankheit aufgrund des Hormonmangels und der Scheidentrockenheit meist noch einmal schlimmer. Bei vielen Frauen wird die Krankheit erst nach den Wechseljahren erkannt, weil sich die Beschwerden dann verschlimmern. Problematisch wird es bei Frauen, die nichts von ihrer Erkrankung spüren. Es ist sehr schwierig, sie zur regelmässigen und konsequenten Therapie zu motivieren, um Spätfolgen zu verhindern. Schwierig wird es auch bei Frauen mit Inkontinenz, bei denen der Urin permanent auf den Intimbereich einwirkt. Das irritiert die Haut und verschlechtert die Situation noch einmal dramatisch.
Lässt sich die Erkrankung behandeln, und können die Spätfolgen gestoppt werden?
Wenn die Krankheit früh diagnostiziert wird, am besten bereits im Kindheitsalter, lässt sie sich der Verlauf meist vollständig aufhalten. Behandelt wird diese Autoimmunerkrankung mit lokal aufgetragenen Immunsuppressiva wie Cortison-Salben. Davon braucht es nicht viel. Dennoch haben viele Angst davor. Man kann dabei natürlich auch Fehler machen und überdosieren. Deshalb ist es wichtig, dass der Frauenarzt den betroffenen Frauen genau zeigt, wie die Salbe angewandt werden muss. Dazu müssen sich betroffene Frauen mithilfe eines Handspiegels zuerst selbst kennenlernen. Das ist für Frauen oft neu. Viele schauen ihre Vulva mit 50 Jahren zum ersten Mal selbst an. Wenn die Frauen ihren Intimbereich kennen, kann man ihnen auch zeigen, wo wieviel Cortison-Salbe aufzutragen ist. Korrekt aufgetragen wird erstaunlich wenig Cortison benötigt. Eine Alternative sind sogenannte Calcineurininhibitoren, die man in der Transplantationsmedizin verwendet und ebenfalls immunsuppressiv wirken. Bis heute sind sie aber nicht gleich gut wirksam wie hochpotentes Cortison.
In der Bevölkerung ist diese Krankheit zu wenig bekannt. Wie sieht es bei Ärzten und anderen Gesundheitsfachpersonen aus?
Die jungen Gynäkologen sind entsprechend ausgebildet. In den letzten zehn Jahren ist auf diesem Gebiet sehr viel passiert. Das Bewusstsein für diese Erkrankung wurde erhöht, sowohl bei den Fachärzten als auch in der Bevölkerung. Gynäkologen werden von uns heute entsprechend fortgebildet. Was dieses Krankheitsbild anbelangt, ist die Schweiz innerhalb Europas vielleicht sogar führend. In vielen Ländern um uns herum herrscht noch grosse Ahnungslosigkeit. Die erfolgreiche Aufklärungsarbeit hierzulande ist vor allem auch dem Verein «Lichen sclerosus» (siehe Box, Anm. der Redaktion) zu verdanken, der vor sechs Jahren mit 5 Frauen gestartet ist. Heute sind über 4500 Betroffene dabei!
Was, wenn eine Frau zu spät korrekt diagnostiziert wird ihr Intimbereich bereits – bitte verzeihen Sie den Ausdruck – durch die Krankheit verstümmelt wurde? Wie kann ihr geholfen werden?
Die degenerierten Bereiche können von einem entsprechend ausgebildeten Chirurgen operativ wiederhergestellt werden. Der Heilungsprozess braucht einfach etwas Zeit. Die Operation ist kein Ersatz für eine Cortison-Therapie. Auch nach der Operation muss regelmässig eine Cortison-Salbe eingesetzt werden, damit die Zerstörung nicht von vorne beginnt.
Woran sollten Frauen denken, die immer wieder an Beschwerden im Intimbereich leiden?
Man muss sich bewusst sein, dass Juckreiz, Brennen und Schmerzen im Intimbereich auch andere Ursachen als eine Pilz- oder Blaseninfektion haben können. Wenn Frauen immer wieder an einer Blasenentzündung erkranken, ohne dass Bakterien nachgewiesen werden können, muss das vom Gynäkologen abgeklärt werden. Dasselbe gilt, wenn eine Frau mehrmals im Jahr an einer Pilzinfektion leidet. In solchen Fällen ist es nicht ratsam, die Beschwerden auf eigene Faust mit Mitteln aus der Apotheke oder Drogerie zu behandeln. Vielleicht verschaffen sie vorübergehend Linderung und erschweren dadurch die korrekte Diagnose. Die Ursache behandeln Sie jedoch nicht. Dabei ist eine frühzeitige Diagnose und korrekte Behandlung sehr wichtig, um bleibende Schäden zu verhindern.
Dr. pharm. Chantal Schlatter, Apothekerin
Kurzer Informationsfilm über Lichen Sclerosus
Verein Lichen Sclerosus Schweiz – Deutschland – Österreich
Ziel dieses in der Schweiz gegründeten gemeinnützigen Vereins ist die Betreuung von Betroffenen sowie die Aufklärung über Lichen sclerosus, Lichen planus und Vulvodynie mithilfe von folgenden Angeboten:
• Öffentliche Informationsseiten im Internet, youtube, Instagram, Facebook und Linkedin
• Selbstuntersuchungsflyer für Frauen und Männer
• Aufklärungsreferate in der Öffentlichkeit und Schulungen in Apotheken
• Informationsstand an Ärztekongressen und medizinischen Fortbildungen/Symposien
• Lancierung und Schreiben von Artikeln und Berichten in den Print- und Fernsehmedien
• Vereins-Mitgliedschaft mit Zugang zu einem grossen geschützten Passwortbereich
• Diskreter Austausch unter Betroffenen
• Beratung per Email, Telefon, Videokonferenz
• Selbsthilfegruppen
• Workshops zu verschiedenen Themenbereichen
• Jahrestagung mit Inputreferaten
• Aufklärungsbuch «Jule und die Muscheln»
Weitere Informationen auf www.lichensclerosus.ch, www.juckenundbrennen.ch und www.vulvodynie.ch