Erinnerung an die Zukunft

Warum wir fast alles wieder vergessen, den paar Erinnerungen, die wir haben, nicht trauen können und trotzdem ununterbrochen Neues lernen.

Thinkstock

Von Dr. Chantal Schlatter, 
Apothekerin
     

Ich weiss, Sie haben gerade erst mit dem Lesen begonnen, aber halten Sie bitte einen Moment inne und denken Sie über Ihr Leben nach. – Wer sind Sie?
Wohin sind Ihre Gedanken geschweift, als Sie über diese Frage nachgedacht haben? Woran haben Sie gedacht? Was würden Sie auf diese Fragen antworten, wenn Sie keinerlei Erinnerung an Vergangenes hätten?

Patient H. M.

Menschen mit Amnesie, die ihr Gedächtnis ganz oder teilweise verloren haben, müssen das auf bittere Weise erfahren, jedoch hat deren Erforschung viel zum besseren Verständnis der an der Gedächtnisbildung beteiligten Hirnstrukturen und neurobiologischen Prozesse beigetragen. Einer der bekanntesten Amnesie-Patienten war Henry Gustav Molaison (1926–2008), auch Patient H. M. genannt. Im Alter von 27 wurden ihm Hippocampus und Amygdala mit dem Ziel entfernt, eine schwere Epilepsie zu heilen. Die Epilepsie verbesserte sich, aber ebenso war auch seine Fähigkeit verschwunden, neue Erinnerungen zu schaffen. Man nennt das auch anterograde Amnesie, weil sie – im Gegensatz zur retrograden Amnesie – nicht vergangene, sondern künftige Ereignisse betrifft. Seine Vergangenheit kannte H. M. also noch, auch das Erlernen neuer Fähigkeiten funktionierte nach wie vor, z. B. lernte er, Golf zu spielen. Und obwohl er immer besser wurde, war jedes Spiel wie sein erstes: Er konnte sich nicht daran erinnern, es je gelernt zu haben.

Das Gehirn ist 
sehr wählerisch

Dank Patienten wie H. M. wissen wir, dass es unterschiedliche Formen des Gedächtnisses gibt, die sich in verschiedenen Hirnarealen befinden. Doch bei der Entstehung neuer Erinnerungen scheinen vor allem zwei Strukturen relevant: der sogenannte Hippocampus und die Amygdala. Ohne Unterlass, ja selbst im Schlaf, werden riesige Datenmengen an unser Gehirn gesendet, sowohl externe Sinneseindrücke als auch interne, vom Körper ausgehende Signale, und es ist bestimmt nicht in unserem Interesse, jeden einzelnen Pulsschlag oder Hüpfer des Sekundenzeigers zu regis­trieren. Nur was wichtig, dringend oder neu ist, soll bewusst wahrgenommen und gespeichert werden. Und genau das wird im Hippocampus entschieden. Er ist das Nadelöhr, das eine Erinnerung aus dem Kurzzeitgedächtnis passieren muss, um sich einen Platz im Langzeitgedächtnis zu ergattern. Die Amygdala redet dabei mit. Die mandelgrosse Formation ist an der Entstehung von Emotionen beteiligt. Was starke Gefühle erzeugt, Angst beispielsweise, könnte für unser Überleben wichtig sein, wir sollten uns deshalb besser daran erinnern. Welche Angelegenheit es bis in den Langzeitspeicher schafft, hängt also auch davon ab, welchen emotionalen Wert ihr die Amygdala verpasst. Nur was uns berührt, positiv wie negativ, bleibt haften.

Beim Lernen verändert 
sich das Gehirn

In unserem Gehirn kommunizieren 100 Milliarden Nervenzellen ununterbrochen miteinander. Um Neues zu lernen, müssen vorhandene Verbindungen gestärkt und neue Verknüpfungen geschaffen werden. Man nennt das auch Neuroplastizität, also die Eigenschaft von Nervenzellen und ihren Verbindungen oder auch ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit ihrer Verwendung zu verändern.

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