Erwachsene mit ADHS

Ein Teil der Symptome sind bei Erwachsenen zwar schwächer ausgeprägt, andere hingegen können im Privat- und Berufsleben immer störender werden. - Ein Interview mit Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli.

Frau Prof. Eich, worin unterscheidet sich ADHS bei Kindern von ADHS bei Erwachsenen?

Prof. Dr. med. Dominique Eich-Höchli: Kinder zeigen die klassischen Symptome, wie man sie aus den Lehrbüchern kennt: Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung. Die Aufmerksamkeitsstörung, also das Träumerische, was vor allem Mädchen zeigen, stört weniger. Es fällt meist erst wegen schwächeren Leistungen in der Schule auf. Jungs hingegen werden wegen der ausgeprägten Hyperaktivität und Impulsivität auffällig, sie bekommen Probleme mit den Lehrern und sind oft vor der Türe. Entsprechend werden sie auch dreimal häufiger abgeklärt als Mädchen.

Wie entwickelt sich ein ADHS, wenn die Kinder erwachsen werden?

In der Regel werden die Symptome schwächer. Bei ca. zwei Drittel der Betroffenen werden Hyperaktivität und Impulsivität deutlich besser, wobei die innere Unruhe und die Anspannung bei Männern häufig bleiben. Die Aufmerksamkeitsstörung bleibt ebenfalls. Sie betrifft im Erwachsenenalter beide Geschlechter gleichermassen und führt nicht selten zu einer desorganisierten und chaotischen Lebensweise mit Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche und dem Herausschieben von Arbeit, was nicht selten zum (wiederholten) Verlust der Arbeitsstelle führt. ADHS bleibt also ein Leben lang, zeigt sich aber in den verschiedenen Lebensphasen auf unterschiedliche Art und Weise.

Wodurch wird ADHS verursacht?

ADHS ist auf eine leicht veränderte Hirnstruktur zurückzuführen. Auch die Kommunikation über Botenstoffe zwischen den Hirnzellen ist etwas verändert, vor allem beim Dopamin und Noradrenalin. Aus Zwillings- und Adoptionsstudien weiss man, das ADHS vererbt wird. Wenn ein Elternteil an ADHS leidet, werden rein statistisch 50% der Kinder ebenfalls betroffen sein. Darüber wird nicht gerne gesprochen, aber es ist wichtig zu wissen. ADHS wird heute immer noch zu selten diagnostiziert. Viele Erwachsene haben in ihrer Kindheit nie eine Diagnose erhalten. Wenn nun beim Kind ADHS festgestellt worden ist, kann es sich lohnen, auch bei den Eltern genauer hinzuschauen. Und umgekehrt.

Wie wird die Diagnose gestellt?

Zur Diagnose eines ADHS muss eine definierte Anzahl Symptome erfüllt sein, die in vorgegebenen Listen beschrieben sind. Manche Patienten erfüllen diese Kriterien nicht, weil sie nicht genügend Symptome zeigen. Das ist ein Problem, denn man kann ja schon bei einem einzigen Symptom stark leiden. Ausserdem müssen die Beschwerden je nach Liste bereits vor dem siebten oder aber vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein. Auch das ist oft schwierig, weil viele Erwachsene sich nicht mehr genau erinnern. Ausserdem müssen mindestens zwei Lebensbereiche betroffen sein, also zum Beispiel die Schule und das Zuhause. Probleme, die nur in der Schule auftreten, reichen für die Diagnose nicht. Immer wertvoll für die Diagnose sind Aussagen von Drittpersonen: Der Partner, die Eltern, gerade auch bei Jugendlichen, die sich selbst meist kein Problem eingestehen wollen. Oder durch Schulzeugnisse, weniger wegen der Noten, sondern wegen der Kommentare der Lehrer.

Wie kommt man als Betroffener auf die Idee, sich abklären zu lassen?

Die meisten Patienten fühlen sich „normal“. Es ist häufig eher die Umgebung, Bekannte, der Partner, die Partnerin oder die Probleme am Arbeitsplatz, die diesen Schritt veranlassen. Dank dem Internet sind die Leute heute auch besser informiert. Wenn Sie nach ihren Symptomen googlen, werden sie oft von selbst darauf gebracht. Es ist aber immer noch so, dass viele aus Angst vor Stigmatisierung gar keine Diagnose möchten, obwohl eine Behandlung grosse Erleichterung bringen könnte.

Gibt es noch andere Diagnosen, die in Frage kommen?

Etwa jeder zweite ADHS-Patient leidet auch an Depression, jeder zehnte an einer bipolaren Störung, das heisst, er ist manisch-depressiv. Ausserdem können Angst- sowie Abhängigkeitsstörungen vorhanden sein. In solchen Fällen ist häufig nicht sofort klar, ob es sich um eine ADHS oder etwas anderes handelt. Emotionalität und Reizbarkeit zum Beispiel, können sowohl für ADHS typisch sein, aber auch bei Depression oder bipolaren Störungen auftreten. Hier gilt es herausfinden, ob es sich nun um eine Depression oder um ADHS mit begleitender Depression handelt. Für die Therapie orientiere mich in der Regel zunächst am Leitsymptom und beginne dann, die Behandlung zu optimieren.

Sind bei ADHS immer Medikamente nötig?

Nicht grundsätzlich. Das hängt stark vom Leidensdruck des Patienten ab. Der wichtigste Teil der Behandlung ist die Aufklärung. Je besser Betroffene ihre Symptomen verstehen und erfahren, worin die Ursache liegt, desto motivierter sind sie, ihre Situation zu verbessern. Untersuchungen aus der Schweiz zeigen, dass keine Gefahr für Überbehandlung besteht. Patienten erhalten nur dann eine Therapie, wenn sie eine brauchen. Wer keinen Leidensdruck hat, wird sich auch nicht behandeln lassen.

Über Ritalin® bei Kindern hört man viel. Ist das noch aktuell? Und was kommt bei Erwachsenen in Frage?

Goldstandard in der Behandlung von ADHS ist immer noch Mehtylphenidat, der Wirkstoff des Ritalins®. Dafür existiert bereits jahrzehntelange Erfahrung. Aus historischen Gründen ist Ritalin® aber nur für die Behandlung von Kindern zugelassen. Denselben Wirkstoff enthält Concerta®, das auch für die Behandlung von Erwachsenen eingesetzt werden darf, weil für die Zulassung entsprechende Studien bei Erwachsenen durchgeführt sind. Es befinden sich noch weitere Präparate mit Methylphenidat auf dem Markt. Und obwohl sie alle denselben Wirkstoff enthalten, können ADHS-Patienten teils unterschiedlich darauf ansprechen.

Was für Möglichkeiten gibt es noch?

Für Patienten mit einer Abhängigkeitsstörung wird zum Beispiel Lisdexamfetamin mit dem Handelsnamen Elvanse® empfohlen. Es entfaltet seine Wirkung nur langsam, was vor Missbrauch schützt. Eine weitere Substanz ist der Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin mit dem Handelsnamen Strattera®. Der Wirkstoff war seit längerem für Kinder zugelassen und ist es nun auch für Erwachsene. Atomoxetin entfaltet seine Stärke vor allem im Bereich der Aufmerksamkeitsstörungen und der Reizbarkeit, wenn es über längere Zeit eingenommen wird.

Was sind weitere Therapiestandbeine?

Eine wertvolle Unterstützung kann das sogenannte „Coaching“ sein durch Personen, die entsprechend ausgebildet sind. Sie helfen insbesondere desorganisierten, etwas chaotischen Personen bei der Bewältigung ihres Alltags. Und selbstverständlich kann man einzelne Symptome auch mit den Methoden der Verhaltenstherapie behandeln. Ich arbeite gerne mit ADHS-Patienten zusammen. Ich lade sie auch ein, mit in meine Vorlesungen zu kommen, damit sie sich den Studenten gegenüber selbst äussern und mit ihnen über ihre Situation diskutieren können. Das ist eindrücklicher als jede Theorie.

Von Dr. pharm. Chantal Schlatter

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